Höhenphysiologie und Untersuchungen über die Auswirkungen der Dauerbelastung von Bergsteigern und Expeditionsteilnehmern
Schon in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit beschäftigte sich die Stiftung für Alpine Forschung mit den Problemen der Höhenphysiologie. Um den Bergsteigern den Vorstoss in die Achttausender zu ermöglichen, war es notwendig, geeignete Sauerstoffgeräte zu entwickeln. Die Lösung dieser technischen Aufgabe erfolgte schrittweise unter Ausnützung der im internationalen Erfahrungsaustausch gewonnenen Informationen.
Die ersten eigenen Arbeiten gehen auf Dr. med. Edouard Wyss-Dunant zurück. Später gewann Jürg Marmet als Experte der Stiftung für Alpine Forschung für Sauerstoffprobleme internationale Anerkennung. Er hatte an der ETH Chemie studiert und wurde später Mitarbeiter am Arbeitsphysiologischen Institut der ETH, bevor er in die Privatwirtschaft übertrat.
Als Bergführer nahm Jürg Marmet an der Baffinland-Expedition 1953 unter Col. P.D. Baird teil, worüber ein Artikel in Berge der Welt, Bd. IX, 1954, berichtet. Im Rahmen des wissenschaftlichen Programms führte er unter feldmässigen Verhältnissen Grundumsatzbestimmungen an Expeditionskollegen durch. Im Tagebuch eines seiner Versuchsobjekte werden zwar diese Messungen nicht besonders hoch eingeschätzt, weil sie das Opfer dazu verpflichteten, während 24 Stunden ausschliesslich von Kohlehydraten zu leben.
Jürg Marmet hat alle mit der Atmungsphysiologie verbundenen Fragen gründlich durchgearbeitet. Er erwarb sich dabei ein Wissen, welches die Grundlage für die erfolgreiche Weiterentwicklung von Sauerstoffgeräten für Besteigungen in grosser Höhe schuf. Nicht zuletzt haben seine wissenschaftlich-technischen Vorarbeiten zum Erfolg der 1956 durchgeführten Everest-Lhotse-Expedition beigetragen. Als Teilnehmer dieser Expedition hat Jürg Marmet den Gipfel des Mount Everest bestiegen.
Kreisten die fachlichen Interessen Marmets vor allem um die Probleme der Sauerstoffversorgung in grosser Höhe, so setzten sich die beiden Expeditionsärzte Eduard Leuthold und Georges Hartmann in einem viel breiteren Rahmen mit medizinischen und sportphysiologischen Fragen im Alpinismus auseinander. Im weitesten Sinne beschlagen ihre Untersuchungen das Thema der Belastbarkeit des Menschen unter extremen Verhältnissen. Sie stellen die Frage nach den physischen und psychischen Grenzen des Menschen unter ungewöhnlicher Dauerbelastung und leisten damit einen Beitrag an die Beurteilung des gesundheitlichen Expeditionsrisikos.
Eduard Leuthold nahm als Expeditionsarzt an der Everest-Expedition 1956 teil. 1961 beteiligte er sich als Arzt an der Axel-Heiberg-Expedition der McGill University in Montreal unter Leitung von Prof. Fritz Müller. Später war er als Mitglied von Ärztemissionen des IKRK in Jemen, im Mittleren Osten und in Biafra. Auf der Everest-Expedition 1956 bearbeitete er im Auftrag von Prof. Alex. von Muralt, Bern, arbeitsphysiologische Probleme, im besonderen das Verhalten von Puls und Blutdruck bei Belastung in grossen Höhen. Diese Arbeiten wurden im Fliegerärztlichen Institut, Dübendorf, fortgesetzt und schliesslich als Dissertation publiziert. In der ihm eigenen, objektivierenden Art sichtete Eduard Leuthold kritisch die medizinische Fachliteratur zu allen Fragen, die im Zusammenhang mit dem Expeditionswesen stehen. Auf Grund persönlicher Erfahrungen erkannte er die praktischen Begrenzungen, die medizinischen Forschungsarbeiten unter den extremen äusseren Bedingungen einer Himalaya- oder Arktis-Expedition gezogen sind. Seine Vorbehalte gegenüber medizinischen Spezialuntersuchungen im Rahmen von bergsteigerischen oder wissenschaftlichen Expeditionen, deren Ergebnisse nachweisbar kaum je dem finanziellen Aufwand entsprechen, waren wegleitend für die Vorbereitungen das Experiment “Hochleistungstest” vom März 1969.
Dr. Georges Hartmann begab sich 1961 im Auftrag des IKRK für 4,5 Monate nach Nepal, wo er vorwiegend in den Hochtälern des Himalaya im Einsatz war. 1965 nahm er als Arzt an der Schweizerischen Cordillera Bianca-Expedition teil, für welche die Stiftung das Patronat übernommen hatte. 1969 leitete er die schweizerische Expedition zum Tukuche Peak in Nepal (Berge der Welt, Bd. XVII, 1968/69). Als Mediziner fesselten ihn neben Fragen der allgemeinen Unfallprophylaxe im besondern die Probleme der Ernährung, des Stoffwechsels und des Wasserhaushaltes unter den extremen Bedingungen, denen der Bergsteiger bei Dauerleistung im Hochgebirge ausgesetzt ist. Er erkannte die Bedeutung der Flüssigkeitszufuhr für die Erhaltung der Leistungsfähigkeit. Hohe Wasserverluste zu Anfang anstrengender Bergfahrten können eine ganze Kette körperlicher und psychischer Reaktionen auslösen, die in enger Wechselwirkung zu Erschöpfungszuständen mit sprunghaft ansteigendem Unfallrisiko führen.
Die Erfahrungen der beiden Ärzte Dr. Leuthold und PD Dr. Hartmann veranlassten uns zu einer internen Studie über die Belastbarkeit im Expeditionsbergsteigen. Die Analyse von Originalberichten und persönlichen Aussagen von Teilnehmern an missglückten Expeditionen deckten die hohen Risiken auf, die mit Erschöpfungskrisen verbunden sind. Abgestumpfte Sinne, Lähmung der Urteilskraft, Neigung zu aggressiven Ausbrüchen oder zu depressiver Verstimmung, Zusammenbruch des Verantwortungsbewusstseins und der Selbstkritik sind gefährliche Symptome einer fortgeschrittenen Erschöpfung, die all zu oft einem Expeditionsunfall voranging. Die Ergebnisse dieser Analyse führten zur Vorbereitung eines alpinen Hochleistungstestes, der im März 1969 im Berner Oberland durchgeführt wurde.
Eine Gruppe bekannter Alpinisten versuchte eine Gratüberschreitung von 35 Kilometer Länge (vom Eiger bis zum Schilthorn) innerhalb von 14 Tagen im winterlichen Hochgebirge zu bewältigen (Durchschnittshöhe 3500 m). Nach dem Vorschlag Toni Hiebelers nahm diese alpine Expedition ihren Anfang mit dem Aufstieg über den Mittellegigrat des Eigers unter hochwinterlichen Bedingungen. Die Traverse wurde mit der Überschreitung des Mönchs fortgesetzt, und nach einem kurzen Zwischenhalt auf Jungfraujoch folgten die Bergsteiger folgender Route: Lauitor – Gletscherhorn – Gletscherjoch – Ebnefluh – Ebnefluhjoch, von wo sie – nach 14 km – über den Ebnefluhgletscher und die Lötschenlücke ins Lötschental abstiegen.
Der Hochleistungstest war von allem Anfang an als Experiment zur Feststellung der Leistungsgrenzen hochtrainierter Bergsteiger gedacht. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus war zum vornherein klar, dass bei der geringen Zahl von Teilnehmern das ganze Unternehmen als Vorexperiment zur Gewinnung von Versuchserfahrungen und zur Erlangung von Grundlagen für spätere, systematisch zu planende Untersuchungen zu werten sei. Den Teilnehmern war ein grosses Mitspracherecht bei der Zusammenstellung der Verpflegung, bei der Auswahl der Ausrüstung und bei der Planung des Ablaufes eingeräumt worden. Zu Beginn und nach Abschluss des Testes wurden sie von einem Ärzteteam nach einem von PD Dr. Hartmann koordinierten Programm klinisch und laboratoriumsmässig eingehend untersucht. Sie verpflichteten sich, während der ganzen Dauer des Tests bestimmte Beobachtungen in ein Tagebuch einzutragen; sie führten Buch über ihren Konsum von Lebensmitteln und Getränken; sie waren gehalten, ihren eigenen Urin in Behältern zu sammeln und an bestimmten Stellen der Route dem überwachenden Arzt abzugeben. Um die auf Expeditionen ausserordentlich wichtigen soziologischen Anpassungsprozesse zu erfassen, die sich zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Bergsteigergruppe abspielen, sicherten wir uns die Mitarbeit eines Psychologen. Um den Gruppenbildungsprozess von aussen her nicht zu beeinflussen, wurde vermieden, einen Gruppenleiter zu ernennen.
Mit der wissenschaftlichen Auswertung dieses Tests hat sich eine Gruppe von Fachleuten unter Leitung von PD Dr. Hartmann befasst.
Neben der wissenschaftlichen Publikation der Ergebnisse gibt es auch populäre Veröffentlichungen. Toni Hiebeler schrieb Anfang 1971 einen Erlebnisbericht im Alpinismus. Der Aroser Photograph und Bergführer Ruedi Hornberger hat die Alpinisten auf ihrer anstrengenden Tour begleitet und einen Farbfilm gedreht, der eine breitere Öffentlichkeit über das Unternehmen informiert.
Mit diesem Hochleistungstest wurden wesentliche Elemente der traditionellen Tätigkeit der Stiftung für Alpine Forschung in einer einzigen Aktion koordiniert. Unter Ausnützung ihrer Expeditionserfahrungen wollte sie der sportmedizinischen Forschung bestimmte Impulse vermitteln und durch fachlich und populär ausgerichtete Veröffentlichungen das Interesse weiterer Kreise wecken.