In den Jahren 1961 bis 1964 lag der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Tätigkeit der Stiftung für Alpine Forschung auf die Förderung der Wildforschung, eines Forschungsgebietes, das damals vom fachlichen und organisatorischen Standpunkt aus ungewöhnlich fesselnde Aufgaben stellte. Die Wildforschung ist eindeutig als angewandte Forschung zu betrachten. Mit einem parlamentarischen Vorstoss lud der bernische Forstdirektor und Ständerat Dewet Buri 1951 den Bundesrat ein, die Wildforschung in unserem Lande zu unterstützen, um fachliche Unterlagen zur Eindämmung der Verbissschäden in schweizer Wäldern zu gewinnen. In der Begründung bezifferte er diese Schäden jährlich auf die Summe von sechs Millionen Franken. Der Bundesrat trug diesem Begehren Rechnung, indem er bei der Revision des Bundesgesetzes über Jagd- und Vogelschutz folgenden Artikel aufnahm: “Der Bund fördert die Erforschung des frei lebenden Wildes und seinen Lebensraum.” Damit erhielt die Wildforschung in unserem Lande eine eigene Rechtsgrundlage, die dem Bundesrat gestattet, die Wildforschung in einer ihm gut scheinenden Form finanziell zu unterstützen. Die Stiftung für Alpine Forschung sah darin eine Chance, die schweizerische Wildforschung nach den Grundsätzen eines modernen Forschungs-Managements aufzubauen und damit ein Modell für die Lösung von Aufgaben in der angewandten Forschung zu liefern. Der Vorschlag zur Schaffung einer Führungszentrale für die Wildforschung forderte in schärfster Weise sowohl die politischen Instanzen wie die in der Wildforschung tätigen Fachleute heraus. Ein von der Stiftung ausgearbeiteter Vorschlag für die Organisation der schweizerischen Wildforschung provozierte eine heftige Auseinandersetzung: Dem traditionellen Ideal einer zweckfreien Forschung unter dem Banner unbeschränkter Forschungsfreiheit stand der Anspruch einer wirtschaftlich orientierten Gesellschaft nach ökonomischer Verwendung der Forschungsgelder gegenüber. Der Entwurf sah in erster Linie den Aufbau einer Koordinations- und Organisationsstelle für Wildforschung vor, die durch Zusammenfassung der personellen und materiellen Mittel die Voraussetzung für die Lösung von Forschungsaufgaben verbessern sollte. Besonderes Gewicht wurde auf eine interdisziplinär ausgerichtete Zusammenarbeit der verschiedenen Spezialisten gelegt. Im übrigen schlug die Stiftung die Schaffung einer wissenschaftlichen Dokumentationsstelle und eines Informationsdienstes für die Forschung vor. Dieser forschungspolitische Vorstoss blieb im ersten Anlauf stecken. Auf politischer Ebene kam es zwar zur Ernennung einer beratenden eidgenössischen Expertenkommission für Koordination und Dokumentation der Wildforschung. Auf seiten der Fachleute stiess jedoch der Vorschlag auf Widerstand. Offenbar fürchteten die Wissenschaftler, unter die Abhängigkeit einer nach administrativen Gesichtspunkten entscheidenden Amtsstelle des Bundes zu geraten. Anderseits brachten sie auch nicht die Kraft auf, aus der helvetischen Eigenbrötelei der einzelnen Hochschulinstitute auszubrechen und aus eigener Initiative den Weg zur Zusammenarbeit zu finden. Wenn es auch im ersten Versuch nicht gelang, mit der Idee einer zentralen Stelle für die schweizerische Wildforschung durchzudringen, so liessen sich wenigstens auf Teilgebieten Fortschritte erreichen.
Die Anstrengungen der Stiftung waren auf drei Ziele ausgerichtet:
1. Förderung des akademischen Nachwuchses auf dem Gebiet der Wildforschung;
2. Verbesserung der wissenschaftlichen Dokumentation;
3. Popularisierung der Wildbiologie in der Öffentlichkeit.
Vorerst versuchte die Stiftung, im Volk für die Wildforschung Verständnis zu wecken, indem sie auf verschiedene Weise die Aufmerksamkeit auf den Alpensteinbock lenkten. Die Stiftung begannen 1961 mit einer Erinnerungsfeier an die vor 50 Jahren erfolgte erste Aussetzung von Steinwild in der Schweiz. Unter Mithilfe von Prof. Willi Plattner aus St. Gallen konnte eine Namenliste aller Pioniere zusammengestellt werden, die sich um die Wiedereinbürgerung des Steinbockes in den Schweizer Alpen Verdienste erworben hatten. Allen Förderern der Steinwild-Aussetzung wurde eine vom Graphiker Max Lenz geschaffene Grossplakettee mit dem Bild eines Steinbockes überreicht.
Unter dem Titel “Capra ibexL.”, dem wissenschaftlichen Namen des Alpensteinbockes, gab die Stiftung für Alpine Forschung ein Bulletin heraus, das in allgemein verständlicher Form über Ergebnisse der Steinwildforschung berichtete.
Im Sommer 1961 lud die Stiftung Prof. Helmut Buechner von der Washington State University in die Schweiz ein. In Gastvorlesungen und auf Exkursionen machte er Studenten der zoologischen Institute mit Fragen der Wildbiologie vertraut und entwarf ein Programm zur Erforschung des Steinbockes.
Auf Grund seines Vorschlages nahm der Zürcher Zoologe Marco Schnitter Untersuchungen über den Steinbock auf. Mit Unterstützung der bernischen Forstdirektion arbeitete er vor allem im Banngebiet des Augstmatthorns am Nordufer des Brienzersees. Der Berner Graphiker und Wildphotograph Max Lenz legte gleichzeitig eine Sammlung von Aufnahmen über das Steinwild und seinen Lebensraum an. Bilder aus diesem Photoarchiv wurden zur Illustration wissenschaftlicher und populärer Veröffentlichungen über den Alpensteinbock verwendet. Einzelne Aufnahmen wurden an der EXPO 1964 in Lausanne und in einer von Marco Schnitter vorbereiteten Ausstellung des Zoologischen Museums Zürich gezeigt.
Der junge Zürcher Historiker Peter Ziegler spürte alte Quellen auf, die Angaben über das Aussterben des Steinbockes in der Schweiz lieferten. Er hat die Ergebnisse seiner Nachforschungen in kartographischer Form in “Capra ibex L.” zusammengestellt. Der Altphilologe Peter Flury, der sich auf die Übersetzung spätlateinischer Texte spezialisiert hatte, übersetzte die lateinische Schilderung, die Conrad Gesner in seinem “Thierbuch” (1583) über den Steinbock gibt. Er konnte dabei durch eine textkritische Analyse verschiedene Fehler in deutschen Übersetzungen des Gesnerischen Originaltextes berichtigen. Von besonderem Wert für den wissenschaftshistorisch interessierten Fachmann sind in Gesners Tierbuch die Angaben zu den damals bekannten Veröffentlichungen über den Steinbock. Reizvoll ist ferner der Vergleich der lateinischen Originalfassung mit der zeitgenössischen deutschen Übersetzung.
Der Parasitologe Bernd Hörning, damals noch Mitarbeiter am Institut Galli-Valerio in Lausanne, verfasste ein wertvolles Verzeichnis wissenschaftlicher Arbeiten über den kaukasischen Steinbock und eine Publikationsliste zur Parasitologie des Steinbockes. Seine ausgezeichneten Sprachkenntnisse erlaubten ihm, auch die osteuropäische Fachliteratur unter deutscher Transkription der Titel anzuführen.
Gemeinsam mit Georges Bouvier veröffentlichte Hörning Ergebnisse parasitologischer Untersuchungen am Steinwild der Schweiz. Otto Hegg bestimmte Futterpflanzen im Kot von Steinböcken. Alle diese Kleinarbeiten waren dazu bestimmt, das Interesse an der Steinbockforschung zu wecken und den Boden für breiter angelegte Spezialarbeiten vorzubereiten.
Auf Veranlassung von Prof. Hans Burla, Direktor des Zoologischen Museums an der Universität Zürich, arbeitete Bernhard Nievergelt eine Dissertation über den Steinbock aus. Er wurde während der Feldarbeiten und während der nachfolgenden Auswertungsperiode durch ein Forschungsstipendium der Stiftung für Alpine Forschung unterstützt. Die Ergebnisse der ausserordentlich interessanten Untersuchung sind unter dem Titel “Der Alpensteinbock (Capra ibex L.) in seinem Lebensraum” 1966 veröffentlicht worden.
Als Einzelheit aus der Arbeit Nievergelts soll nur die Bestimmung der Wintereinstände des Steinwildes im Val Trupchun (Schweizerischer Nationalpark) und im Gebiet des Wetterhornes mit Hilfe von Flugphotographien erwähnt werden.
Parallel zur Steinbockforschung förderte die Stiftung wissenschaftliche Arbeiten an anderen alpinen Tierarten. Einen ersten Anlass zu dieser thematischen Ausweitung bot die Anfang der sechziger Jahre seuchenartig auftretende Gemsblindheit. Die Krankheit brach sprunghaft an geographisch weit auseinander liegenden Orten aus. Der eigenartige Verlauf der Epidemie warf unter Fachleuten die Frage nach dem Erreger und dem Überträger auf. Durch einen Forschungsbeitrag ermöglichte die Stiftung Dr. Kurt Klingler, Privatdozent an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Universität Bern, während des Seuchenzuges Beobachtungen über die Gemsblindheit zu sammeln. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen wurden später publiziert (siehe Anhang). Um erkrankte Gemsen für Untersuchungen und Behandlungen einfangen zu können, stand Kurt Klingler ein Modell eines damals neu entwickelten Narkosegewehres zur Verfügung. Um die praktische Erprobung dieses neuen Hilfsmittels hat sich Klingler in unserem Lande persönliche Verdienste erworben.
Im weitern unterstützte die Stiftung die Ausarbeitung der Dissertation Augustin Krämers über “Sozialverhalten und Sozialorganisation einer Gemspopulation (Rupicapra rupicapra L.) der Alpen”. Krämer beobachtete seine Gemspopulation am Augstmatthom und im angrenzenden Justis-Tal; er konnte in der Feldarbeit auf die Hilfe des bernischen Jagdinspektors Hans Scbaerer und der zuständigen Wildhüter zählen. Die Promotionsarbeit Krämers wurde von Professor Burla begutachtet. Sie erschien 1969 in der Zeitschrift für Tierpsychologie.
Der erfreuliche Aufschwung, den die alpine Wildforschung durch die verschiedenen Diplomarbeiten und Dissertationen nahm, verlangte nach einem Erfahrungsaustausch auf internationaler Ebene. Durch Reisebeiträge ermöglichte die Stiftung den jungen Wildforschern, im Rahmen von Fachkongressen Beziehungen zu ausländischen Kollegen anzubahnen. Im weitern verpflichtete die Stiftung auf Anregung von Professor Leibundgut vom Institut für Waldbau an der ETH Zürich den tschechischen Wildforscher Anton Bubenik zu einer mehrjährigen Tätigkeit in der Schweiz. Dem ausländischen Gast ging in internationalen Jagdkreisen der Ruf eines erfolgreichen Promotors der Wildforschung voraus; ausserdem galt er als ausgewiesener Kenner der west- und osteuropäischen Fachliteratur zur Wildbiologie und Jagdwissenschaft. Als eigenwilliger Forscher mit stark suggestiver Ausstrahlung und lebhafter wissenschaftlicher Phantasie hat Bubenik während seines Aufenthaltes in der Schweiz einerseits viele Anregungen vermittelt, anderseits eine oft leidenschaftlich vertretene Opposition auf den Plan gerufen. Mit Referaten und in Diskussionen hat er der Wildforschung in der Schweiz manchen Impuls vermittelt. Bubenik widmete sich vor allem Untersuchungen über das Sozialverhalten der Geweihträger. Neben Arbeiten über Hirsch und Reh liefen Beobachtungen an kanadischen Elchen und Karibus.
Am Rande sei noch auf die faunistischen Notizen aus Axel-Heiberg-Land hingewiesen, die Hein Rutz 1965 veröffentlichte.
Alles in allem hat in den oben erwähnten die schweizerische Wildforschung eine erfreuliche Breitenentwicklung erfahren, wie dies schon aus dem Verzeichnis der wildkundlichen und zoologischen Arbeiten hervorgeht, die in irgendeiner Weise durch die Stiftung gefördert wurden.
Neben der Unterstützung von Feldarbeiten und der Nachwuchsförderung versuchte die Stiftung, schrittweise eine Dokumentation über das wissenschaftliche Schrifttum auf dem Gebiet der Wildforschung aufzubauen. Die ersten Arbeiten sind die bereits erwähnten, von Bernd Hörning zusammengestellten Listen von Publikationen über den kaukasischen Steinbock und über die Parasitologie des Steinbockes. Später gewährten wir einen Beitrag an den Nachdruck eines Übersichtsreferates von Paul Juon (Institut für Waldbau an der ETH Zürich) über die Rehwildernährung. Im weitern stellte die Stiftung auf Grund einer Umfrage unter Fachleuten und wissenschaftlichen Instituten ein Verzeichnis der in der Schweiz veröffentlichten wildkundlichen Arbeiten zusammen. Die Liste wurde später durch das Eidgenössische Jagdinspektorat weitergeführt.